Im Oktober 2021 der Rat der Fakultät für Staats- und Rechtswissenschaften sowie der Rat der Fakultät für Recht und Verwaltung der Universität Warschau haben Beschluss gefasst, die Deutsche Rechtsschule nach Prof. Marcus Lutter zu benennen. Prof. Lutter war einer der wichtigsten Gründer der DRS. Sein Werk trägt bis heute zur Vertiefung der Beziehungen zwischen Polen und Deutschland, sowohl auf der wirtschaftlichen wie auch auf der persönlichen Ebene bei. Während des Kurses der DRS werden wissenschaftliche Kontakte zwischen den Dozenten und den Studenten und Studentinnen angeknüpft, die manchmal sich in langjährige Freundschaften entwickeln. Viele Absolventinnen und Absolventen wählen eine deutsch-polnische Ausrichtung in ihrem beruflichen Leben.
Unten finden Sie persönliche Erinnerungen an Prof. Marcus Lutter von Prof. Dr. Wulf-Henning sowie Prof. Mirosław Wyrzykowski Roth wie auch eine kurze Autobiographie von Prof. Lutter.
EHEM. DIREKTOR DES INSTITUTS FÜR HANDELSRECHT UND DES ZENTRUMS FÜR EUROPÄISCHES WIRTSCHAFTSRECHT
Professor Dr. Dr. h.c. mult. Marcus Lutter, langjähriger Direktor des Instituts für Handelsrecht und des Zentrums für Europäisches Wirtschaftsrecht, ist am 22. Juni 2021 verstorben. Mit ihm verliert die Rechts- und Staatswissenschaftliche Fakultät einen ihrer herausragenden, national und international renommierten Wissenschaftler.
Marcus Lutter wurde am 11. Dezember 1930 in München geboren. Er studierte Rechtswissenschaften an den Universitäten München, Paris und Freiburg im Breisgau und promovierte 1956, nach dem Ersten Juristischen Staatsexamen (1954), an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg mit einer rechtsvergleichenden Arbeit über das Eheschließungsrecht. Nach dem Zweiten Juristischen Staatsexamen war er für einige Jahre als Notar in Rheinland-Pfalz tätig. Unter Betreuung seines akademischen Lehrers, Professor Dr. Johannes Bärmann, habilitierte er sich 1963 an der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät der Johannes GutenbergUniversität Mainz mit einer Arbeit über das Thema „Kapital, Sicherung der Kapitalaufbringung und Kapitalerhaltung in den Aktienrechten und GmbH-Rechten der EWG“.
Marcus Lutter erhielt 1966 einen Ruf auf den Lehrstuhl für deutsches und europäisches Handels- und Wirtschaftsrecht an der damals neu gegründeten Ruhr-Universität Bochum, die er durch die Organisation von Vorträgen, Symposien und Konferenzen zu einem Zentrum gesellschaftsrechtlicher Diskussion für die Unternehmensjuristen des Ruhrgebiets machte. Nach Ablehnung von Rufen an die Universitäten Berlin, Gießen, Tübingen und Wien übernahm er 1980 den Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Handels- und Wirtschaftsrecht an der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät der Universität Bonn, verbunden mit der Direktorenstelle am Institut für Handels- und Wirtschaftsrecht.
Die national wie international anerkannte wissenschaftliche Tätigkeit von Marcus Lutter konzentrierte sich primär auf das Gesellschaftsrecht, auch in rechtsvergleichender Perspektive. Sein Interesse galt vor allem dem Aktien- und dem GmbH-Recht, dem Konzernrecht, dem Recht des Aufsichtsrats, der Corporate Governance sowie rechtsformübergreifenden Fragen der Verbandsmitgliedschaft. Einer der Schwerpunkte seiner Tätigkeit war das europäische Gesellschaftsrecht. Damit befasste er sich bereits in seiner grundlegenden Habilitationsschrift von 1963 und danach in zahlreichen Abhandlungen, vor allem auch zur Europäischen Aktiengesellschaft. Mit dem Handbuch „Europäisches Gesellschaftsrecht“ (bzw. später “Europäisches Unternehmens- und Kapitalmarktrecht“) begründete er ein Kompendium für dieses Rechtsgebiet. Sein nachdrückliches Engagement auf diesem Gebiet dokumentiert sich auch in einer von ihm mitverantworteten Initiative, in der eine international zusammengesetzte Gruppe renommierter Wissenschaftler den Vorschlag eines europäischen Konzernrechts erarbeitete.
Marcus Lutter hat die ganze Breite des Gesellschaftsrechts mit einer Vielzahl von Monographien, Abhandlungen und Kommentierungen sowie als Mitherausgeber maßgeblicher Kommentare bereichert. Viele seiner Publikationen haben Referenzstatus. Er gehört zu den Gründern und für viele Jahre zu den Herausgebern der „Zeitschrift für Unternehmens- und Gesellschaftsrecht“. Er arbeitete in wichtigen Kommissionen, unter anderem – auch als stellvertretender Vorsitzender – der Unternehmensrechtskommission (1972 ff.), der Regierungskommission Corporate Governance (2000-2001), wie auch der Kommission zur Ausarbeitung eines Deutschen Corporate Governance Kodex. Im Deutschen Juristentag wirkte er als Leiter der Abteilungen „Anlegerschutz“, „Insolvenzrecht“ und „Konzernrecht“; von 1982 bis 1988 amtierte er als Präsident des Deutschen Juristentags.
Die wissenschaftliche Exzellenz und die internationale Strahlkraft seines Wirkens spiegeln sich in den Ehrungen und Auszeichnungen, die Marcus Lutter empfangen hat. Die Würde eines Ehrendoktors haben ihm die Wirtschaftsuniversität Wien, die Universität Warschau sowie die Friedrich-Schiller-Universität Jena verliehen. Er war Träger des großen Verdienstkreuzes des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland, des Großen Goldenen Verdienstordens der Republik Österreich und des Kommandeurskreuzes der Republik Polen.
Die Europäisierung und Internationalisierung der Rechtswissenschaft sah Marcus Lutter als wichtige Aufgabe. Er war 1989 einer der Gründer des Zentrums für Europäisches Wirtschaftsrecht, dem er viele Jahre als Direktor und Sprecher vorstand und das er durch die Veranstaltung zahlreicher Tagungen und Vorträge, vor allem zum Gesellschaftsrecht, sowie durch seine Mitwirkung im Graduiertenkolleg „Europäisches Wirtschaftsrecht“ (1990-1999) nachhaltig bereichert hat. Bis in die jüngste Zeit hat er sich als anregender Gesprächspartner engagiert. Mit ihm hat nicht nur die deutsche Gesellschaftsrechtswissenschaft einen ihrer bedeutendsten Vertreter verloren, sondern auch das Zentrum den seine Tätigkeit für viele Jahre prägenden spiritus rector.
Prof. Dr. Wulf-Henning Roth, Universität Bonn
Prof. M. Lutter – Reminiszenzen
Mein erstes Treffen mit Prof. M. Lutter fand am 3. Mai 1996 in Bonn statt. Als Prodekan der Fakultät für Rechts- und Verwaltungswissenschaften der Universität Warschau nahm ich an den Feierlichkeiten zum Jahrestag der Verfassung vom 3. Mai teil, die von der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Bonn mitorganisiert wurden. Ich erinnere mich an einen Spaziergang entlang des wunderschönen Rheins, an ein Konzert der Staatsphilharmonie und an Gespräche mit meinem Gastgeber. Diese Gespräche drehten sich eher um die Beantwortung von Fragen zur Situation in Polen in politischer, wirtschaftlicher und sozialer Hinsicht, aber auch zur Situation an den Hochschulen. Vor allem aber ging es um Fragen zur Rechtslage, zum Lehrangebot an juristischen Fakultäten, sowie zum Interesse am ausländischen Recht. Als erstes kam die Frage, ob ich bereit wäre, mich für die Veröffentlichung einer von M. Lutter und J. Semmler herausgegebenen Gemeinschaftsstudie mit dem Titel Rechtsgrundlagen freiheitlicher Unternehmenswirtschaft in polnischer Sprache einzusetzen. Ein ehrenvoller Auftrag, aber auch eine große Verantwortung. Als Ergebnis der intensiven Arbeit der Übersetzer und Redakteure von C. H. Beck und des enormen Engagements des Initiators der Veröffentlichung, erschien ein Jahr später ein Buch mit dem polnischen Titel Podstawy prawne gospodarki rynkowej (Rechtsgrundlagen der Marktwirtschaft) Warschau 1997, C. H. Beck S. 397.
Darüber hinaus sprachen wir auch über die Möglichkeit und Zweckmäßigkeit, zunächst einen Kurs für deutsches Recht innerhalb der Fakultät für Rechts- und Verwaltungswissenschaften der Universität Warschau einzuführen, aus dem dann die Deutsche Rechtsschule entstand. Die Gründer der Schule waren zwar die juristischen Fakultäten von Bonn und Warschau, aber es war von Anfang an klar, dass der Spiritus Rector Herr Lutter war. Er begeisterte die Professoren und Dozenten seiner Fakultät für die Idee der Schule und überzeugte den Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD), die Deutsche Stiftung für internationale rechtliche Zusammenarbeit und die Robert Bosch Stiftung, dieses ungewöhnliche, wegweisende Vorhaben zu finanzieren. Wegweisend auch in dem Sinne, dass die Warschauer Schule zu einem Vorbild und Bezugspunkt für ähnliche Schulen geworden ist, die in den folgenden Jahren an anderen polnischen Universitäten gegründet wurden.
Wir begannen unsere gemeinsame Arbeit mit der Festlegung des Organisations- und Funktionsmodells der Schule. Dabei ging es vor allem um die Aufnahmekriterien, die Deutschkenntnisse als Zulassungsvoraussetzung, den Ausgleich der sprachlichen Kompetenzen in Form eines juristischen Deutschkurses vor Semesterbeginn, den Rhythmus der Wochenendkurse, die Kriterien für das Bestehen einzelner Fächer und des gesamten Kurses, die Mechanismen für eine dauerhafte Bindung der Absolventen an die Schule, sowie die Möglichkeiten zur Vertiefung der juristischen Kenntnisse und Erweiterung der beruflichen Fähigkeiten in deutschen Anwaltskanzleien und Rechtsabteilungen großer Unternehmen. Und nicht zuletzt ging es um die Weiterbildungsmöglichkeiten im Rahmen des LL.M.-Programms an der Juristischen Fakultät der Universität Bonn.
Und noch ein weiterer Aspekt wäre hier erwähnenswert: Professor Lutter legte besonderen Wert auf die Unentgeltlichkeit der Schule für die Studenten. Vor der Gründung der Schule gab es bereits zwei andere ausländische Rechtsschulen, eine englische und eine amerikanische, sie verfolgten jedoch den kommerziellen Zweck. Die Deutsche Rechtsschule sollte in all ihren Dimensionen eine akademische Einrichtung sein, auch in finanzieller Hinsicht. Dank externer Finanzierungsquellen konnte das Modell der Studiengebührenfreiheit mehr als zwanzig Jahre lang aufrechterhalten werden. Zugleich ist hervorzuheben und in höchstem Maße zu würdigen, dass alle Dozenten ihre Aufgaben unentgeltlich wahrgenommen haben. Auch dies ist eine Besonderheit der Deutschen Rechtsschule, das Ergebnis einer lutterischen Auffassung vom Wesenskern einer Universität.
Ein Merkmal, das vom ersten Moment ihrer Gründung an auffiel, war das außerordentliche und unermüdliche Bemühen von Prof. Lutter, die Schule in jeder Hinsicht zu einem Vorzeigemodell zu machen und zwar hinsichtlich des Unterrichtsniveaus, der Organisation des didaktischen Prozesses, des wissenschaftlichen Ethos sowie der Verantwortung der Studenten für die Verpflichtungen, die sie im Rahmen des Studiums des deutschen Rechts eingegangen sind. Als ein großartiger Musikliebhaber und -kenner war er stets bemüht, der Eröffnungsfeier eine besondere Dimension der Vortrefflichkeit zu verleihen. So wurde die Antrittsvorlesung von den bedeutendsten Vertretern der deutschen Rechtswelt, sowohl aus der Wissenschaft als auch aus der Praxis auf der Ebene der öffentlichen Einrichtungen sowie auf der Ebene der in der Praxis der Rechtsanwendung tätigen Akteure, darunter auch aus der Wirtschaft, gehalten. Die Universität Warschau, die Fakultät für Recht und Verwaltung und die Studenten der Rechtsschule wurden durch die Anwesenheit von u.a. J. Limbach, K. Biedenkopf, G. Hirsch, P. Kirchhof, U. di Fabio, G. Schwan, K. Dedecius, H.-J. Papier, B. Zypries, W. Hassemer, K. Schmidt, D. Grimm, Th. von Danwitz, J. Masing, Ch. Hohmann-Dennhardt, Th. Kremer oder S. Baer. P. Hemeling, P. Huber, A. Wittig, HEUTE P. Hommelhoff geehrt.
Gegenstand der Antrittsvorlesungen waren stets grundlegende Fragen, die für das Verständnis der Rechtswirklichkeit auf nationaler und europäischer Ebene von Bedeutung sind. Das waren zum Beispiel die Fragen nach den Auswirkungen der Verfassung auf das Privatrecht, die Europäische Grundrechtecharta, die Grundrechte als Wertordnung, Recht und Sprache, Politik und Vertrauen, die einheitliche Rechtsordnung als eine dauerhaft zu realisierende Forderung, der soziale Rechtsstaat und der Grundrechtsschutz in der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union. Die Vorträge die in den ersten zwanzig Jahren der Schule gehalten wurden, sind in dem Buch Auf dem Wege zur Gemeinschaft der Rechtskultur II Hrsg. Marcus Lutter, W.-H. Roth, Mirosław Wyrzykowski, Warschau 2016, herausgegeben vom allseits wohlwollenden C.H. Beck Verlag, der der Idee der polnisch-deutschen rechtlichen Zusammenarbeit treu bleibt, veröffentlicht worden.
Die Deutsche Rechtsschule ist auch eine Plattform für wissenschaftliche Überlegungen in Form von Seminaren und Konferenzen für polnische und deutsche Juristen. Unter vielen möchte ich eine Veranstaltung erwähnen, die in der Anfangsphase der Verfassungskrise stattfand, die 2015 begann und in den Folgejahren den dramatischen Prozess der Zerstörung der Verfassung durch die Verfassungsorgane des Staates fortsetzte. Es handelte sich um die Konferenz Der Verfassungsstaat unter Beteiligung deutscher und polnischer Verfassungsrichter. Es wurden Vorträge über das Wesen des Verfassungsstaates, das Wesen des demokratischen Rechtsstaates, den verteidigungsfähigen Verfassungsstaat, die Gefährdung des Verfassungsstaates, die Europäische Union als Verfassungsgemeinschaft und Menschenwürde-Freiheit-Gleichheit bzw. den Dreiklang der grundlegenden Menschenrechte gehalten. Der zuverlässige Verlag C. H. Beck hat die Konferenzunterlagen in Form eines Buches unter dem Titel Der Verfassungsstaat, Warschau 2017 veröffentlicht.
Sowohl die Inhalte der Antritts- und Kursvorlesungen als auch die Themen der wissenschaftlichen Konferenzen zeigen, dass das europäische Recht und seine Werte ein fester Bestandteil des Lehrplans der Rechtsschule sind. Ich erinnere mich auch an die ebenso feierliche wie freudige Atmosphäre der Eröffnung des Studienjahres 2004/2005 und die Ergriffenheit aller Anwesenden, als Herr Lutter die historischen, politischen, rechtlichen und moralischen Dimensionen der Mitgliedschaft Polens in der Europäischen Union darlegte sowie an seine persönliche Freude und Erfüllung anlässlich dieses Ereignisses.
Professor Lutter war eine herausragende Persönlichkeit, die mit ihrer renaissancehaften Pracht und aristokratischen Vornehmheit jeden beeindruckte. Er war äußerst bescheiden, zog die Menschen an und gleichzeitig wusste jeder sofort, wo sein Platz in der beruflichen oder privaten Beziehung zu ihm war. Man sah ihn schon von weitem: graues Haar, das ihm fast bis zu den Schultern reichte, ein prächtig gefärbter Kaschmirschal, ein flotter Schritt, der Kopf immer dem Gesprächspartner zugewandt, ein Funkeln in den Augen, egal ob es um die Erfolge der Schule, ein Konzert in der Philharmonie oder eine Opernaufführung ging. Denn die Musik war ein fester Bestandteil der Schule. Die Eröffnung des akademischen Jahres fand immer mit einem Streichquartett oder -quintett statt. Ich erinnere mich an die erste Eröffnungsfeier, das Quartett fing an zu spielen, aber die Studenten haben es nicht bemerkt oder dachten vielleicht, es sei ein nebensächlicher Teil des Programms. Professor Lutter stand auf, drehte sich zu den Studenten um, legte den Finger auf die Lippen, und die Studenten haben sofort begriffen, dass es sich dabei nicht um eine einfache musikalische Begleitung in einer Pianobar handelte. Eine so wichtige, beeindruckende Lektion in Sachen Kultur und Benehmen, die so gut in Erinnerung blieb, dass sie nie wiederholt werden musste.
Jeder, der mit Prof. Lutter arbeitete, erinnerte sich an eine weitere besondere Eigenschaft, nämlich seine Bereitschaft, die Erfolge der Studenten und derjenigen, die die Arbeit der Schule organisierten, anzuerkennen und zu loben. Wenn etwas Gutes geschah, wenn scheinbar Unmögliches erfolgreich bewältigt wurde, wenn sich etwas Besonderes im Privatleben oder in der Öffentlichkeit ereignete, wussten wir, wie er reagieren würde. Er sagte immer nur ein Wort: „fantastisch“. „Fantastisch“ ist für mich der Spitzname und das Markenzeichen von Marcus Lutter zugleich. Er allein verfügte über eine solche Kombination von Eigenschaften, dass, wenn jemand eine besondere, einzigartige Synthese von Eigenschaften verdiente, diese Synthese „fantastisch“ lauten würde.
Prof. dr hab. Mirosław Wyrzykowski, Universität Warschau
Unten finden Sie einen Abschnitt der kurzen Autobiographie von Prof. Lutter, die in der Zeitschrift für Unternehmens- und Gesellschaftsrecht erschienen ist. Der ganze Text ist hier abrufbar.
* Prof. Dr. Dr. h.c. mult. MARCUS LUTTER (Universität Bonn).
I. Der Anfang
An meiner Wiege sind mir die Professuren in Bochum und Bonn nicht gesungen worden und die abgelehnten Professuren in Wien, Tübingen, Gießen und Berlin erst recht nicht. Ich war ein ganz normaler Bub, ein mittelmäßiger Schüler, der mit 15 Jahren Bäcker werden wollte und mit diesem Plan an seiner Mutter gescheitert ist. Als später zwei engagierte, junge Lehrer für Deutsch und Französisch an die Schule kamen, bin ich noch ganz gerne Schüler gewesen.
Nach der Heimkehr des Vaters aus russischer Gefangenschaft wurde aus dem künftigen Bäcker dem Vater folgend der künftige Notar. Das erste Studienjahr dafür in München war herrlich mit Skifahren, Segeln, Musik und Theater, aber wenig Juristerei: die Professoren waren schlicht furchtbar. So ging es im dritten Semester nach Freiburg und dort wurde ich bei Gustav Böhmer, Fritz von Hippel und meinem späteren Doktorvater Horst Müller ein glücklicher Student, weniger in den Vorlesungen als in deren Seminaren. Nach der Promotion im Europäischen Eheschließungsrecht1 und den üblichen Examina wurde ich Notarassessor bei einem Notar in Kaiserslautern, Dr. Krehbiel, einem großen Kenner und Könner des Gesellschaftsrechts. Von dem Fach hatte ich bis dahin keine Ahnung, weil ich den in Freiburg dafür zuständigen Professor v. Caemmerer nicht mochte und er mich auch nicht. War dieser Zufall schon wichtig, so der nächste erst recht. Präsident der Notarkammer Pfalz war damals der Ludwigshafener Notar und Ordinarius an der von den Franzosen neu gegründeten Universität Mainz Johannes Bärmann. Er war verheiratet mit einer Französin und beide hatten die nette Gewohnheit, einmal im Jahr die Assessoren der Kammer und deren Damen zu Kaffee und Kuchen einzuladen. So auch in diesem Jahr 1958. Kurz vorher war der EWG-Vertrag unterschrieben worden2 und Bärmann berichtete uns, dass die Anwaltskammer in Paris einen großen Kongress plane zur Schaffung einer europäischen Aktiengesellschaft. Er sei einer der Referenten und wir sollten doch kommen. Die Lutters sind natürlich gekommen und haben ein strahlendes Paris erlebt und einen Kongress, wie ich ihn seither nicht wieder erlebt habe: Vor den Stühlen standen zwei voluminöse scharlachfarbene Sessel, auf denen der Justizminister und der Kardinal saßen. Sie wissen: Bis zur Verabschiedung der Verordnung über die Europäische AG3 dauerte esnoch ein halbes Jahrhundert. Aber zum Abschluss des Kongresses luden die Bärmanns die Lutters zum Mittagessen in die Brasserie Alsacienne ein. Und in einer kleinen Gesprächspause sagte Johannes Bärmann wörtlich: „Herr Lutter, warum habilitieren Sie sich eigentlich nicht?“ Ich war wie vom Donner gerührt, denn an eine Habilitation hatte ich nicht mit dem kleinsten Gedanken gedacht. Es kann leicht sein, dass ich damals nicht einmal wußte, was eine Habilitation ist. Auf der Rückfahrt nach Kaiserslautern stellten meine Frau Rebecca und ich fest, dass ich noch vier Jahre vor mir hatte, ehe ich mit einem eigenen Notariat rechnen konnte. Warum sollte ich da nicht etwas anderes machen als den längst bekannten Assessoren-Dienst? Die deutsche Forschungsgemeinschaft zeigte sich bereit, die Beurlaubung aus dem Notariatsdienst zu finanzieren und ich begann meine Studien über die im EWG-Vertrag festgeschriebene Rechtsangleichung (Art. 54 Abs. 3 lit. g)4 in Straßburg, Brüssel, Utrecht, Paris und Rom – übrigens sehr oft im Beisein von Rebecca und den klitzekleinen Kindern. Lebenslange Freunde habe ich in diesen Ländern und in dieser Zeit gewonnen und lebenslange berufliche Partner in Kontinental-Europa dazu. Habilitation und Ernennung zum Notar gingen vorüber und die Lutter-Familie landete in der kleinsten Stadt von Rheinland-Pfalz namens Rockenhausen. Von hier aus fuhr ich immer mittwochs zu Vorlesung und Seminar mit Bärmann nach Mainz und war des Lebens, wie es geworden war, vollkommen zufrieden.